Dr. Silvia Bentzinger

Geschäftsführerin Seidensticker

Portrait

Dr. Silvia Bentzinger ist Mitglied der fünfköpfigen Unternehmensleitung und trägt als CEO die Gesamtverantwortung für die Marke Seidensticker.  Das Unternehmen, mit Sitz in Bielefeld, produziert seit über 100 Jahren hochwertige Textilien und zählt zu den renommiertesten Hemden- und Blusenherstellern Europas. Hier wird mittlerweile in der dritten Generation geführt und legt seit jeher Wert auf kompromisslose Qualität, zeitlosen Stil sowie soziale und ökologische Verantwortung in der Lieferkette. Ein besonderes Augenmerk liegt zudem auf der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Bentzinger, geboren im Sauerland, hat Rechtswissenschaften studiert und promoviert. Schon nach kurzer Zeit stellte sie fest, dass die juristische Laufbahn nicht ihren beruflichen Vorstellungen entsprach. Stattdessen entschied sie sich für eine Karriere in der Wirtschaft und stieg bei einem Unternehmen im Bereich Personal und Recht ein. Doch während ihrer Schwangerschaft wurde ihr schnell klar, dass sich Karriere und Familie dort schwer vereinbaren lassen würden, weshalb sie sich nach einem neuen beruflichen Umfeld umsah. 2008 wechselte sie zu Seidensticker, zunächst als Leiterin der Abteilung Personal und Recht. Über die Jahre stieg sie in die Unternehmensleitung auf und übernahm 2020 schließlich die Position der CEO.

Die 48-Jährige beweist, dass Karriere und Familie vereinbar sind – vorausgesetzt, man findet das richtige Umfeld. Für sie ist es entscheidend, bewusst zu überlegen, wie dieses Umfeld aussehen soll. Geld sei dabei zunächst zweitrangig; es komme mit der Zeit. Vor allem für Frauen ist es wichtig, Selbstbewusstsein zu entwickeln, zu lernen mit der inneren Kritikerin umzugehen und sich nicht zu rechtfertigen. Bentzinger betont, dass der Mut, den eigenen Weg zu gehen, der erste Schritt auf dem Weg zur erfolgreichen Karrierefrau ist.

Was macht eigentlich eine CEO?

Als CEO der Marke Seidensticker laufen bei mir viele Fäden aus verschiedenen Abteilungen zusammen, wie Presse, Marketing, PR, Kollektion, Design, Vertrieb und E-Commerce. Das macht meinen Arbeitsalltag total abwechslungsreich – kein Tag ist wie der andere. 

Wie schaffen Sie es, bei so vielen Aufgaben den Überblick zu behalten?

Ich habe ein großartiges Team, das mich unterstützt – das ist der Schlüssel. Niemand kann in jedem Bereich eine Expertin sein, deshalb ist es umso wichtiger, dass die richtigen Leute, die richtigen Positionen besetzen. Ich sehe mich eher als Dirigentin des Orchesters, die als Schnittstelle fungiert. Meine frühere Erfahrung im Personalbereich hilft mir dabei, Teams optimal zusammenzustellen und zu verstehen, wie sie am besten zusammenarbeiten.

Wenn Sie zurückschauen, was waren die Schlüsselpunkte Ihrer Karriere?

Ein entscheidender Punkt war für mich, keine klassische juristische Laufbahn einzuschlagen, sondern in einem Wirtschaftsunternehmen tätig zu werden.

Eine weitere Erkenntnis war, dass die Mutterschaft in meinem früheren Unternehmen die Karriere behindern würde. Das führte mich zur Frage: Wo findet man ein Arbeitsumfeld, das Vereinbarkeit ermöglicht?

Der Schritt in die Geschäftsführung war eine weitere wichtige Weichenstellung – dabei stellt sich die Frage: Traut man sich das? Will man das? Geschäftsführung bedeutet nicht nur Glanz und Gloria, sondern auch harte, kaufmännische Entscheidungen zu treffen, die nicht immer populär sind.

Eine von drei Frauen sucht sich nach der Schwangerschaft eine andere Arbeitsstelle. Was raten Sie Frauen diesbezüglich?

Fragen Sie sich zunächst ehrlich: Fühle ich mich in meinem aktuellen Unternehmen wohl und sehe ich dort eine langfristige Perspektive? Wenn ja, dann suchen sie frühzeitig den Kontakt zur Vorgesetzten oder Personalleitung, um wichtige Themen wie die Länge der Auszeit, die Gestaltung der Elternzeit und den Zeitpunkt sowie Umfang der Rückkehr zu besprechen. Es ist auch sinnvoll, den Fuß in der Tür zu halten – ein Jahr Elternzeit zu nehmen, ist völlig okay, aber dabei nicht in Vergessenheit geraten. Halten Sie den Kontakt, vielleicht indem Sie das Baby mal im Büro vorstellen. Wichtig ist, dass Absprachen eingehalten werden und bei Problemen frühzeitig das Gespräch gesucht wird.

Falls Sie merken, dass das Arbeitsumfeld nicht mehr zu Ihrer neuen Rolle oder Ihren Plänen passt, nutzen Sie die Elternzeit als Gelegenheit, andere Optionen auszuloten. Überlegen Sie sich: Wo möchte ich mich hin entwickeln? Möchte ich mich bewerben oder mich vielleicht sogar selbstständig machen? Es gibt viele Möglichkeiten.

Und Sie haben damals Option zwei gewählt und die Fühler ausgestreckt?

Genau! Vor vielen Jahren habe ich hier bei Seidensticker schon einmal ein Praktikum gemacht, das mir sehr gut gefallen hat. Inzwischen hatte ich mein Examen abgelegt und mehr berufliche Erfahrungen gesammelt und dann kam meine ehemalige Chefin aus der Rechtsabteilung auf mich zu, da sie sich beruflich verändern wollte. Sie hat mich dann hier ins Gespräch gebracht. Das Bewerbungsprozedere war natürlich dasselbe wie bei anderen, aber es war schön zu wissen, dass sie an mich gedacht hat.

Also Frauen unterstützen Frauen?

Genau, das halte ich für einen sehr wichtigen Punkt. Frauen sollten sich gegenseitig unterstützen. Männer machen das seit jeher, ohne viel Aufhebens darum. Frauen hingegen tun sich oft schwer damit. Ich biete immer gerne Unterstützung an, wenn ich von einer Person überzeugt bin. Man kann jedoch nicht erwarten, dass andere einen ins Blaue hinein empfehlen.

Was ist für Sie Erfolg?

Für mich ist Erfolg eher ideell als materiell oder hierarchisch definiert. Es ist wichtig, sich zu fragen, wie man sein Leben gestalten möchte und was einen wirklich zufrieden macht. Danach sollte man meiner Meinung nach sein Leben und die Karriere ausrichten. Das ist sehr individuell: Für die eine Person kann es die Tätigkeit in einer NGO sein, für eine andere das Ehrenamt oder der Vorstandsposten.

In Ihrem Profil bei LinkedIn steht: „Erfolg ist eine Treppe, keine Tür“. Was verstehen Sie darunter?

Damit meine ich, dass berufliche Karrieren immer Entwicklungen sind. Als junge Person kann man nicht erwarten, dass man ein hervorragendes Studium absolviert und dann einfach durch eine Tür in die Karriere tritt. Viele fragen mich, ob mein Werdegang geplant war – und die Antwort ist nein. Es hat sich alles Stück für Stück ergeben. Daher rate ich zu Geduld: Viele Erfahrungen sammeln, und der Rest wird folgen.

Auch jetzt habe ich keine genaue Vorstellung davon, was ich in zehn Jahren machen werde. Mir hilft das Vertrauen auf mein inneres Gefühl, was meine Kompetenzen sind und was mich glücklich macht.

Wie sehen sie Materielles im Zusammenhang mit Erfolg?

Natürlich gehört Geld zum Arbeiten dazu. Allerdings sollte man nicht ausschließlich darauf achten, wo man das meiste Geld verdient. Bei einer Einstiegsposition ist das beispielsweise oft irrelevant. Viel wichtiger ist es, Entwicklungspotenziale im Blick zu haben und das richtige Unternehmen zu finden. Das halte ich für entscheidender. Wenn man schließlich etwas gefunden hat, in dem man gut ist, dann kommt das Geld in der Regel von ganz allein.

Nach der Geburt meiner Tochter war ich bereits nach acht Wochen wieder hier, weil ich meine Position unbedingt behalten wollte. Finanziell war das ein Nullsummenspiel für mich; ich habe quasi ein Jahr umsonst gearbeitet. Mein Gehalt wurde mit dem Elterngeld verrechnet, und ich musste die Betreuungskosten für meine Kinder decken. Solche Entscheidungen muss man für sich selbst treffen.

Wie gehen Sie mit Perfektionismus um?

Ich bin ein sehr anspruchsvoller Mensch, sowohl privat als auch beruflich. Für mich ist es wichtig, immer 100 Prozent zu geben. Manchmal kommt nicht das heraus, was man sich erhofft, und das muss man lernen zu akzeptieren.

Die Herausforderung liegt im inneren Kampf mit sich selbst. Es ist eine Achterbahnfahrt – mal läuft es besser, mal schlechter. Ich setze meine Hürde nie bei 60 Prozent, denn ich strebe immer nach Höchstleistungen. Dennoch muss ich akzeptieren, dass es nicht immer so klappt, wie ich es gerne hätte.

Es heißt, dass es beim Thema Perfektionismus geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Wie ist Ihre Wahrnehmung?

In meiner Wahrnehmung haben Frauen tatsächlich oft einen stärkeren inneren Kritiker. Während Männer sich tendenziell eher für die nächste Position geeignet fühlen, spielen Mut und Selbstvertrauen eine entscheidende Rolle. Wenn andere einen als geeignet betrachten, sollte man versuchen, nicht selbst daran zu zweifeln. Mein Rat ist: Versuch’s doch erst mal! Selbst wenn es nicht funktioniert, ist das kein Weltuntergang; Dinge lassen sich immer korrigieren.

Haben Sie einen Tipp, wie man die innere Kritikerin beruhigen kann?

Wir alle leben mit dieser inneren Kritikerin, die einen jeden Tag begleitet. Ich gehe oft mit Gedanken ins Bett wie: Was hätte besser laufen können? oder Was hätte ich anders machen müssen? Diese Selbstreflexion ist auch wichtig, da sie einen antreibt. Die Herausforderung besteht darin, nicht daran zu verzweifeln und auch Imperfektionen zu akzeptieren, während man den Mut hat, weiterzumachen.

Man könnte ja denken, je mehr Kompetenzen man aufbaut und je mehr man sich weiterentwickelt, desto leiser wird die innere Kritikerin…

Nein, es wird eher schlimmer (lacht). Die Anforderungen wachsen, und es kommen immer mehr Aufgaben hinzu. Wichtig ist, bei sich zu bleiben und den Fokus zu setzen: Mit welchen Menschen muss ich mich eigentlich abstimmen? Für mich sind das mein Mann, meine zwei Kinder und ich. Es ist entscheidend, dass wir glücklich sind und im Einklang miteinander stehen. Die Meinungen von 99.000 anderen sind für mich in dem Moment nicht entscheidend. Als berufstätige Mutter muss man sich von äußeren Erwartungen befreien und darf sich nicht von den vielen Sichtweisen, mit denen man konfrontiert wird, verunsichern lassen.

Fragen Sie sich: Wer sind meine Vertrauenspersonen? Bei wem darf ich mal Schwäche zeigen? Ich habe viele erfolgreiche Frauen kennengelernt, und sie alle kämpfen mit ähnlichen Gedanken. Das ist völlig normal.

Sie sind Mutter und CEO, stehen also täglich vor vielen Aufgaben und Herausforderungen. Haben Sie einen Tipp, wie es Ihnen gelingt den Fokus richtig zu setzen?

Es ist entscheidend, sich nicht zu rechtfertigen – weder bei Elternabenden noch bei Kolleginnen oder Kollegen. Man sollte einfach Dinge tun. Der Schlüssel liegt darin, bei sich selbst zu beginnen und selbstbewusst mit der eigenen Rolle umzugehen. Man muss sich nicht ständig erklären; das geht nur einen selbst und die wenigen Menschen im eigenen Umfeld etwas an. Wenn man diese Klarheit ausstrahlt, wird es für andere auch keine Frage mehr sein. Und wenn doch, dann sind diese Menschen nicht der Hauptbezugspunkt und das hilft dabei, dass es einen weniger belastet.

Authentizität ist entscheidend; man merkt sofort, ob jemand echt ist oder eine Rolle spielt. Sich nicht zu rechtfertigen und sich seiner eigenen Rolle bewusst zu sein, ist äußerst wichtig. Den Mut zu haben, das zu leben, ist der erste Schritt für jede Karrierefrau.

Familienfreundlichkeit wird heutzutage für Unternehmen immer wichtiger, wie sind Ihre Erfahrungen diesbezüglich?

Es beginnt an der Spitze und zieht sich dann durch die gesamte Organisation. Wenn die Führungsebene etwas will oder nicht will, dann beeinflusst das alles. Unsere Gesellschafter sind sehr familienfreundlich, und das ermöglichte mir bestimmte Dinge, welche ich nachfolgend auch meinen Mitarbeitenden wiederum ermöglichen kann.

Es ist entscheidend, sich die Frage zu stellen, was Mitarbeitende wirklich brauchen, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Am Ende geht es darum, individuelle Lösungen zu finden, die für Unternehmen und ihre Mitarbeitenden passen. Standardmodelle wie Job-Sharing sind hilfreich, aber was wirklich zählt, sind passgenaue Lösungen. Flexibilität und Vertrauen spielen dabei eine große Rolle.

Ein Beispiel: Wenn es zu Hause brennt, ist es sinnvoll zu fragen: Brauchst du zwei Tage frei? Die Arbeit kann dann später erledigt werden. Das entscheidende Mindset lautet: Möchte ich meinen Mitarbeitenden diese Flexibilität ermöglichen?

Die Corona-Pandemie hat dazu beigetragen, dass mehr Flexibilität und Homeoffice möglich sind. So kann ich beispielsweise nach unserem Interview meine Tochter zum Kieferorthopäden fahren und anschließend online den nächsten Termin zu Hause wahrnehmen.

Dr. Silvia Betzinger verdeutlicht, wie durch authentisches Selbstvertrauen, individuelle Lösungen und ein engagiertes Miteinander die Vereinbarkeit von Karriere und Familie gelingen kann. #togetherstronger #WomenWhoLead

Das Interview führten Kim Lasche, Projektmanagerin und Julia Lüthgen, Mitarbeiterin Kommunikation beide Kompetenzzentrum Frau und Beruf OWL.

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